Rocher-Festival in Travemünde

Die Sieger des Doublette-Turniers vom Samstag: Emil Petersen, Jonas Kristensen, Bruno Rocher, Dylan Rocher, Gueven Rocher, Simon Cortes, Philippe Suchaud und Turnierverantwortlicher Reinhard Schwertfeger (v.l.). Die Lücke wurde für Philippe Quintais freigehalten, der sich beim Schreiben von Autogrammen und geduldigem Modellstehen für Erinnerungsfotos verspätet hatte. Nein, das war keine Werbeveranstaltung von Ferrero und auch mit Nuss-Schoko-Kugeln hatte das nichts zu tun, wenngleich — goldene Kugeln hätte man im einen oder anderen Fall mit etwas Vorstellungskraft schon sehen können. Die Rede ist vom größten Pétanqueturnier auf deutschem Boden beim 20. Holstentor-Turnier in Lübeck-Travemünde. Um die 2.000 Boulespielerinnen und Boulespieler aus zwölf Nationen waren an die Ostsee gekommen, um an zwei Tagen ihre Besten auszuspielen. Die Besten hörten an beiden Tagen auf den schönen französischen Familiennamen Rocher – gemeint ist Vater Bruno Rocher mit seinen drei Söhnen Dylan, Gueven und Mendy. Mit dabei auch das französiche Dream-Team Philippe Quintais, Philippe Sauchaud und Simon Cortes. Aber auch das war noch nicht genug: Bruno Le Boursicaud, der amtierende Weltmeister, hatte sich zu einer Bleu-Rot-Gold-Formation mit Sascha Koch und Sönke Backens zusammengefunden. Die gesamte Deutsche Spitzenklasse war am Start und dazu Spitzenspieler aus Madagaskar, den Niederlanden, Israel, Dänemark und ein riesiges Team aus Schweden. Und was gab es zu sehen? Nun, goldene Kugelwürfe vom Feinsten und dazu einige spannende Spiele mit taktischen Leckerbissen. Da machte dann auch der Regen während der Finalrunden nicht mehr viel aus – jedenfalls dann, wenn man auf der Tribünde im Trockenen saß.

256 Spielbahnen waren notwendig, um beim Turnierstart am Samstagmorgen um 9:00 Uhr den gemeldeten 512 Doubletteteams einen Spielgrund zu bieten. Diesmal nicht im nahe gelegenen Zippel-Park sondern konzentriert rund um den Brügmanngarten und entlang der Travemünder Strandpromenade. Man muss es einfach mal erlebt haben, wenn man Boulespieler, Strandbesucher, die offene Ostsee und dazu große Fährschiffe auf einem einzigen Foto abbilden kann, ohne besondere trickreiche Maßnahmen zu ergreifen. Der Samstag steht in Travemünde traditionell auch den lizenzfreien Doubletteformationen offen, was die Vielfalt der Spielerinnen und Spieler nur um einige sympatische Farbtupfer erweitert. Bereits im Laufe der Woche hatte sich die Boulefamilie in Travemünde ein zunehmend größer werdendes Stelldichein gegeben. Viele waren bereits im Laufe der Woche angereist und verbanden einen kurzen oder auch längeren Urlaub mit der Turnierteilnahme. Bereits am späten Vormittag trafen sich die ersten unentwegten Kugelwerfer zum Warmspielen, zum Training oder auch nur um bei einer Partie das Turniergelände kennen zu lernen und dabei natürlich Freunde und Bekannte zu treffen und Neue kennen zu lernen.

Auch das gehört zur Boulewoche in Travemünde: ein Traditionssegler läuft aus. Freie Unterkünfte waren an diesem Wochenende in und um Travemünde zur Mangelware geworden. Einen Platz in einem der vielen guten Fischrestaurants zu bekommen, erforderte viel Verständnis bei Besuchern und Betreibern der Restaurants. Insofern ist das Holstentorturnier inzwischen für Travemünde auch ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor für lokale Anbieter geworden. Den Veranstaltern ist zu wünschen, dass diese Erkenntnis zunehmend Platz greift und sich auch Vermieter und andere Nutznießer dieser Boulisteninvasion durch nennenswerte Sponsorenbeiträge erkenntlich zeigen.

Der Traum eines jeden Boulepaares, ein Spiel mit Philippe Suchaud und Philippe Quintais. Es ging glimpflich ab und so haben wir die Beiden, deren Namen wir leider nicht wissen, bei bestem Appetit am nächsten Tag im Fischrestaurant getroffen. So erlebnisreich kann ein Turnier in Travemünde sein. Aber zurück zum Turnier: In den beiden ersten Runden am Samstagvormittag kam es natürlich unvermeidlich für einige einfache und gehobene Hobbyspieler zu Begegnungen der besonderen Art mit den Größen dieses Sports, die überwiegend nicht deutsch als Muttersprache hatten. So war der ab und an geäußerte Wunsch schon verständlich, wenn man schon die Partie der 1. Runde verlieren muss, dann doch bitte gegen eines der ganz namhaften Teams, am besten aus Frankreich. Für einige ging dieser Wunsch in Erfüllung und nicht immer kam dabei ein Fanny heraus. Nahezu alle Top-Teams überstanden die beiden ersten Runden schadlos und fanden sich so im A-Turnier wieder, dessen Teilnehmer um den Turniersieg spielen konnten.

Punkt 12:00 Uhr stand die offizielle Eröffnung auf dem Programm. Mit Lübecks Bürgermeister Saxe, der sich noch an die Anfänge des Holstentorturniers mit wenigen Familienmannschaften, damals wirklich noch in Lübeck vor dem Holstentor, erinnern konnte und Reinhard Schwertfeger, der seit vielen Jahren der Kopf dieses Turniers ist. Die ausländischen Teams wurden auf die Bühne gebeten und mit Gastgeschenken begrüßt. Ein wenig wehmütig wurde es, als sich Reinhard nach vielen Jahren des Einsatzes für dieses Turnier verabschiedete und sich dabei für die Geduld seiner Familie in all den Jahren bedankte. Lang anhaltender Beifall der Boulegemeinde war Lohn und Anerkennung für eine tolle langjähre Leistung bei der Entwicklung dieses Turniers. Dabei vergaß Reinhard aber auch nicht, sich bei den vielen Helfern vor und hinter der Bühne für ihren Einsatz zu bedanken, ohne die ein solches Turnier nicht durchführbar wäre.

Um die Starterliste des Doubletteturniers auf ein Bild zu bekammen war schon ein kleiner Trick notwendig - so viele Einträge hat kein anderes Turnier in Deutschland. Danach ging es weiter mit den KO-Runden. Ab jetzt bedeutete jede Niederlage für das jeweilige Team: Ende des Turniers und ab jetzt nur noch zuschauen. Das war aber nicht wirklich ein schlechtes oder bedauernswertes Schicksal. Hatte man doch endlich Zeit und Gelegenheit die Großen dieses Sports aus allernächster Nähe zu beobachten. Sie zu finden, war überhaupt kein Problem – man musste nur nach den größten Menschentrauben Ausschau halten und sich dann anstellen und ein wenig strecken. Mit dem Fortschritt des Turniers wurden auch die Partien der Top-Teams enger und damit spannender. Aber immer wieder bemerkenswert die Präzision, mit der gerade die Top-Spieler ihre Kugeln legten oder schossen. Losglück oder vielleicht auch ein wenig Turnierregie verhinderten, dass die französischen Top-Teams frühzeitig gegeneinander spielen mussten. So traf man sich einmütig kurz nach 20 Uhr zum Viertelfinale. Inzwischen hatte es begonnen zu regnen – eine Erfahrung, die französische Pétanquegrößen nicht zu kennen scheinen. Mit 3/4-langen Hosen und T-Shirt dürfte es dem Einen oder Anderen ziemlich kalt geworden sein.    

Das hinderte aber nicht, auf ein rein französisches Finale zuzusteuern. Gueven Rocher und Simon Cortes behielten über die groß aufspielende dänische Formation Jonas Kristensen und Emil Petersen mit 13 : 5 die Oberhand. Dylan und Bruno Rocher zeigten im Spiel gegen Philippe Quintais und Philippe Suchaud, dass sie derzeit die Spitze in Fankreich darstellen. Kleinste Unsicherheiten der beiden Etablierten führten zum 13 : 3 Sieg der Familienformation. So kam es zu einem Finale, in dem drei von vier Spielern auf den Namen Rocher hörten – Simon Cortes durfte auch mitspielen. Lag es am Wetter (immer wieder Regenschauer) oder an der Zeit – das Finale begann um 22:30 Uhr, für Travemünder Verhältnisse sensationell früh, für französiche Verhältnisse unglaublich spät – jedenfalls dauerte das Finale nur ganze 21 Minuten und dann hatten Vater und älterer Bruder gezeigt, wer hier den Verlauf der Dinge bestimmt: wieder 13 : 3, eine klare Angelegenheit. Und der geneigte Zuschauer, sofern er sich nicht auch noch für die Finalspiele im B-, C- oder D-Turnier interessierte, hatte die fast einmalige Gelegenheit, noch vor Mitternacht in die Nähe des heimischen Betts zu kommen.

In der Nacht regnete es immer wieder und es gab zudem Starkwind. Der Sonntagmorgen war grau und feucht. Aber die Turnierregie ist in diesem Punkt unerbittlich: Um 9:00 Uhr standen ca. 385 Tripletten auf dem Platz und spielten die ersten Kugeln der Auftaktpartie. Wie bei Triplettespielen nicht anders zu erwarten, waren um 12:00 Uhr noch nicht alle Spiele beendet. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Sieger des Vortags geehrt. Danach wurde eine Cadrage gespielt – in Travemünde in den letzten Jahren eine Seltenheit und diesmal der etwas krummen Teilnehmerzahl geschuldet. Bereits ab dem 16-tel-Finale zeichnete sich das schon vertraute Bild ab – nur waren heute ein paar mehr rote Trikots des DPV-Kaders zu sehen. Martin Kuball, Jan Garner und Jannik Schaake lieferten sich ein ganz enges Duell mit der Familie Rocher, die heute mit Bruno, Dylan und Gueven das Triplette bildete.  Die letzte Aufnahme sah zwei Kugeln der französischen Formation in der Nähe der Zielkugel – bei 11 Punkten auf dem Konto würde das reichen. Aber nur eine Kugel wegbefördert und eine weitere Aufnahme war zu spielen. Jannik entschied sich fürs Legen, statt zu schießen, was er eigentlich sehr gut kann. Leider war es die falsche Entscheidung und damit der Sieg beim französischen Familienteam.

Auch an diesem Sonntag setzte sich fort, was schon am Samstag zu beobachten war: Die Halfinalbegegnungen überragten das Finale bei Weitem bei Qualität des Spiels und in der Spannung. So musste das deutsche Top-Team mit Mahmut Tufan, einem toll aufgelegten Gerrit Halbach und einem sicher legenden Benny Lehmann mit 9 : 13 nach hartem Kampf den Rochers geschlagen geben. Noch dramatischer verlief das andere Halbfinale, das hier beispielhaft für die hohe Kunst des Pétanquespiels stehen soll. Nach relativ klarem Vorsprung gerieten Philippe Quintais, Philippe Suchaud und Simon Cortes noch in Probleme. Da wurden in diesem Team so ziemlich alle denkbaren Formationen durchgewechselt; Quintais als Leger und als Schießer, Suchaud als Klasse Milieu und Cortes als Schießer und später als Leger. Als ein Carreau gebraucht wurde, übernahm Suchaud die Position des Schießers und schoß, was verlagt war: ein Carreau. Aber das Team der deutsch-französischen Freundschaft mit Sönke Backens, Sascha Koch und Bruno Le Boursicaud lieferte in dieser Partie ein mitreißendes Spiel und es hat sicher noch nicht viele Spiele in Deutschland gegeben bei denen ca. 800 Zuschauer höchst gespannt und ab und an mit Jubelstürmen ein Pétanquespiel  beobachteten. Vorletzte Aufnahme, das Dream-Team bei 11 Punkten. Die Konstellation der Kugeln und die Sicherheit der Schützen deutete absolut darauf hin, dass Quintais, Suchaud und Cortes zwei Punkte machen würden und damit gewinnen. Hier zeigte sich die totale Abgebrühtheit eines Weltmeisters: Bruno wartete bis zu seiner letzten Kugel und auf den Zeitpunkt, an dem das gegnerische Team nur noch eine Kugel auf der Hand hatte. Dann, man traute seinen Augen kaum, schoss er die Zielkugel ins Aus – nur ein Punkt beim Gegner und das Publikum tobte vor Begeisterung. Le Bousicaud Junior (zwischen 6 und 8 Jahre alt) rief mit kindlicher Begeisterung ein ums andere Mal „Bravo babaa!“. Die nächste Aufnahme war dann das Verrückteste, was ich je gesehen habe: Bruno schießt und die Zielkugel bleibt an der Schnur der Auslinie hängen. Einige Zentimeter mehr und man wäre wieder mal gerettet gewesen. Das QSC-Team sieht beim Stand von 12 : 12 aus wie der sichere Sieger, weil eine Kugel ca. 30 cm schräg vor dem Schweinchen liegt. Söhnke legt und bleibt weniger als 10 cm schräg vor dem Schweinchen liegen und damit auch 10 cm vor der Grundlinie und das auf gut 12 m. Quintais schießt und trifft – beide Kugeln im Aus. Söhnke legt seine zweite Kugel und bleibt wieder knapp 12 bis 15 cm vor dem Schwein liegen. Quintais muss schießen, darf aber nicht die Sau ins Aus befördern, weil Bruno die letzte Kugel auf der Hand hat. Es ist unglaublich, auf 12 m Entfernung trifft er die Kugel so auf den Kopf, dass diese hochspringt und über die Sau ins Aus. Das Publikum ist aus dem Häuschen. Nun hat Bruno die letzte Kugel und Le Bousicaud Junior ruft „Allez babaa!“. Le Boursicoud legt und auch diese dritte Kugel in dieser Situation bleibt nur ca. 10 cm. vor der Zielkugel und der Auslinie liegen. Gewonnen! Alle liegen sich in den Armen, selbst die Verlierer lachen und das Publikum erhebt sich zu stehenden Ovationen. Das sind die Momente, deretwegen wir diesen Sport betreiben und auch noch um Mitternacht bei Regenwetter und Kälte auf dem Platz hocken, um zuzuschauen.

Nach diesem heißen Kampf konnte das Finale einfach nicht mehr mithalten und die Rocher-Formation gewann recht locker mit 13 : 6. Damit hörten die Siegerteams an beiden Turniertagen auf den Namen Rocher und so machten Sie dieses 20. Holstentorturnier zu einem wahren Rocher-Festival.