Aus einer anderen Welt

Das 'Dream-Team' für viele Besucher: Simon Cortes, Philippe Suchaud und Philippe Quintais (im Weißen Trikot von links) in der Begegnung gegen das Team 'Sevilla'. Mit dem Auto in Richtung Süden – südliche Weinstraße, vorbei an Landau und Bad Bergzabern – über die deutsch-französische Grenze, die sichtbar kaum noch eine ist. Aber schon ca. 700 m hinter der Grenze, in Wissembourg beginnt für Freunde des Kugelspiels eine andere Welt. Sehr günstig, direkt an der Einfahrt der Stadt aus östlicher Richtung liegt der Place de la Foire. Dies ist, wie wir später feststellen, ein sehr großer Parkplatz, auf dem wohl ab und an auch Markt ist. Dieser Platz ist Austragungsort einer Veranstaltung der Turnierserie „Masters de Pétanque“, deretwegen wir hierher gekommen sind. Obwohl dieser große Parkplatz wegen der Veranstaltung gesperrt ist, sind genügend Parkplätze in unmittelbarer Nähe – auch das ist anders als bei uns.

Wir sind früh angereist und das hat sich als richtig erwiesen. An diesem Donnerstag schienen alle LKW der Republik unterwegs und Staus, wie sie später Agnes und Johann erwischen, sind vorprogrammiert. Pünktlich zu sein ist bei einem Turnier in Frankreich auch absolut angesagt: Punkt 10:00 Uhr – nicht früher, aber auch keine Minute später beginnt das Turnier. Und was für ein Turnier! Acht Mannschaften spielen in einer Serie von sechs Turnieren, die über ganz Frankreich verteilt sind – Wissembourg ist der östlichste und der deutschen Grenze nächstgelegene Austragungsort. Deshalb sind auch viele deutsche Zuschauer aus Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und aus dem Saarland auf den Tribünen zu sehen. Tribünen – ja, es gab wirklich Tribünen rund um die zentralen vier Spielfelder. Drei Stahlrohrtribünen, nur für diese Veranstaltung aufgebaut mit jeweils ca. 350 Sitzplätzen. Dazu zwei überdachte Podien für die Jury und für VIP’s. Insgesamt Platz für ca. 1.300 – 1.400 Zuschauer, die am Nachmittag auch erreicht wurden.

Die vier Spielfelder waren überraschend einfach hergerichtet. Es handelte sich, wie schon gesagt, um einen großen Parkplatz. Dieser ist ganz normal asphaltiert. Auf dem Asphalt wurde eine dünne Schicht gewaschener Sand ausgebracht. Auf dem Sand wurden in lockerer Dichte Steine mit 10 – 30 mm Durchmesser verstreut – fertig war der Turnierplatz. Nicht ganz, denn um die Spielfelder war eine Schnur als Abgrenzung gespannt. Ganz akurat war außerhalb der Schnurbegrenzung ein andersfarbiger, deutlich dunklerer Sand gestreut. Daran schlossen sich rundum Werbebanden an, die gleichzeitig als Kugelfang dienten. Dann ein Kunststoffrasenrollteppich und schließlich die Tribünen. Das alles machte einen überaus guten und professionellen Eindruck. Übrigens waren außerhalb dieses Carrees weitere Spielbahnen in gleicher Weise hergerichtet, auf denen am Vortag die Jugendlichen ihr „Masters“ gespielt hatten.

Unter der dünnen Sandschicht der harte Asphalt – man hörte jede Kugel aufschlagen. Aber hier war die Weltelite am Start und man konnte nur staunen, wie die Spieler mit dem Boden zurecht kamen – meistens jedenfalls. Erste Erkenntnis für uns: Das ist ein durchaus guter und anspruchsvoller Bodenbelag – besser jedenfalls als die Rotasche-Sportplätze. Bei diesem Belag haben alle die gleichen Bedingungen – auch noch nach Stunden eines Turniertages. Darüber sollten wir einmal nachdenken. In der ausgiebigen Mittagspause spielten jedenfalls auch viele deutsche Besucher auf den für das Jugendturnier hergerichteten Bahnen und waren damit sehr zufrieden. Ein Weiteres fiel auf: Alle Mannschaften traten wirklich in Trikots auf. Wo bei uns immer wieder mal unsägliche Diskussionen um die Trikotpflicht auftreten, ist das dort bei Sportveranstaltungen überhaupt keine Frage – und es geht nicht nur um mehr oder minder bunte Laiberl sondern dazu gehört selbstverständlich ein komplett einheitliches Outfit – wie halt in anderen Sportarten auch. Und zwei Schiedrichter sind dabei, die den ganzen Tag gut zu tun haben. Gemessen wird hier nur von den Schiedsrichtern, nicht nur der Kugelabstand zum Cochonnet sondern auch die Entfernung des Schweinchens zum Wurfkreis nach dem Auswerfen. 10,05 m ist zu lang – mit 9,90 m gibt man sich dann zufrieden. Das bedeutet, es wird fast durchweg die maximal zulässige Entfernung gespielt.

Nun aber zu den Spielen:
Die von vielen, insbesondere den deutschen Besuchern als Dream-Team betrachtete Formation mit Philippe Quintais, Philippe Suchaud und Simon Cortes tat sich in der Auftaktbegegnung ausgesprochen schwer. Im Spiel gegen Christophe Sevilla, Jean Feltain und Chris Helfrick lagen die vielfachen Welt- und französischen Meister schnell mit 0 : 7 zurück. Es klappte anfangs nichts – Quintais legte ein ums andere mal viel zu kurz, Suchaud schoss Löcher und Cortes passte sich seinen beiden Kollegen an. Dann aber der erste Punkt und Hoffnung kam auf. Nach mehrfachem Wechsel der Rollen in der Formation wurde Punkt um Punkt aufgeholt und schließlich stand es 10 : 10. Am Ende behielt aber das Team Sevilla mit 13 : 11 die Oberhand. Schon dieses Spiel und das Ergebnis zeigt, wie eng in Frankreich die Spitze beieinander ist; ein schwacher Start und eine Partie ist verloren, ehe man richtig im Spiel ist.

Deutlich war es in der Begegnung des Team „FRANCE“ mit Jean-Michel Puccinelli, Kevin Malbec und dem erst 19-jährigen Dylan Rocher gegen die Lokalformation aus Wissembourg. Die jungen Spieler des Teams aus dem Elsass wurden von den einheimischen Zuschauern immer wieder angefeuert und eine 2-Punkte Aufnahme wurde fast wie ein Sieg frenetisch bejubelt. Mit einem 5 : 13 zog sich die lokale Formation gegen das aktuelle französische Nationalteam noch achtbar aus der Affäre. Das Team um Chistian Fazzino hatte ebenfalls einen schwarzen Tag erwischt. Gegen die Wild-Card-Formation Matthieu Gasparini, Christophe Sarrio und Romain Fournie – allesamt sehr gute Nachwuchsspieler noch ohne die ganz großen Titel – musste der älteste Spieler im Starterfeld (Jahrgang 1956) eine 1 : 13 Niederlage quittieren. Spannender, weil ausgeglichener, war das Spiel zwischen den Nationalteams von Thailand und Madagaskar. Thailand führte von Anfang an klar und beim Stand von 9 : 5 schien alles auf einen klaren Sieg hin zu deuten. Aber wie so oft beim Pétanque – plötzlich war alles ganz anders. Thailand fing sich einen klassischen Six-Pack ein und Madagaskar führte mit 11 : 9. Von diesem Schock erholten sich die Spieler aus Fernost nicht mehr, die Partie ging mit 9 : 13 verloren. 1 Std 35 Min hatte dies Viertelfinale insgesamt gedauert und vier Mannschaften waren bereits aus dem Turnier ausgeschieden – so ist das halt in Frankreich, kurz und knackig. Üblich in Frankreich ist auch, dass sich jetzt eine ausgedehnte Mittagspause anschloss. Viel Zeit Bekannte zu begrüßen und über das Gesehene in der ersten Spielrunde noch einmal zu diskutieren.

Was fiel auf?
Zuallererst: Es wurde geschossen, was das Zeug hält. Eine Kugel 80 cm vor der Sau ist ebenso klares Ziel wie eine Kugel, die 30 cm hinter der Sau liegt. Das führt zu ausgesprochen übersichtlichen Bildern auf dem Platz. Ein Höhepunkt in dieser Hinsicht: Als Philippe Suchaud in einer der letzten Aufnahmen seiner Partie als letzter Spieler mit seinen zwei Kugeln in den Kreis tritt, liegt nur eine einzige Kugel im Spielfeld – 60 cm links von der Sau liegt eine gegnerische Kugel. Und was macht Philippe? Mein geistiges Ohr hört jetzt schon: „Natürlich Legen, ist doch viel Platz!“. Aber nicht in Frankreich! Philippe schießt die gegnerische Kugel aus – seine eigene Kugel geht leider auch mit ins Aus. Das Spielfeld ist leer, obwohl inzwischen elf Kugeln gespielt sind – einfach unglaublich! Nun spielt Philippe ganz lässig seine letzte Kugel etwa 3 – 4 m in Richtung Schweinchen und verzeichnet einen Punkt. Das ist ganz großes Pétanque. Hier wird das Motto „Eine Kugel, die nicht mehr im Feld ist, kann auch keinen Punkt machen“ in Perfektion vorgeführt. Dazu braucht es allerdings absolut sichere Schießer. Bei dieser offensiven Spielweise wird aus dem Vorleger auch schnell mal ein „Nachschießer“.

Wie sicher die Schießer sind, wurde in einem kleinen Einlagewettbewerb nach der Mittagspause deutlich. Die vier am Vormittag ausgeschiedenen Teams versuchten in einem Tireur-Wettbewerb noch Punkte zu ergattern. Ein einfaches Bild – eine Kugel im 1-m-Kreis und jeder Spieler des Teams schießt zweimal aus 6, 7, 8 und 9 m Entfernung. Die Zählweise ist wie bei Tir-Wettbewerben üblich: 5 Punkte wenn getroffene Kugel aus dem Kreis und eigene Kugel im Kreis (Carreau), 3 Punkte wenn beide Kugeln aus dem Kreis und 1 Punkt wenn getroffene Kugel im Kreis bleibt. Bei acht Schüssen sind so maximal 40 Punkte zu erreichen. Ein junger Mann aus dem Team „Wissembourg“ schafft unter dem Jubel der Zuschauer 30 Punkte – ein Traumergebnis, das im weiteren Verlauf nur noch von Philippe Suchaud erreicht wird. Bestechend und eindrucksvoll bei diesem Wettbewerb: Mit welch hoher Trefferquote diese Spieler, egal ob Schießer oder Leger, in diesem Wettbewerb ihr Allroundkönnen demonstrieren. Mit insgesamt 73 Punkten siegt das Team Quintais. Team Wissembourg und Thailand müssen nach jeweils 72 Punkten in ein Stechen nach Art des Elfmeterschießens in Pokalspielen beim Fußball. Abwechselnd wird geschossen – wer daneben schießt hat verloren, in diesem Fall Thailand. Eine tolle Einlage, allerdings nur solange die Klasse der Schießer so hoch ist wie hier. Und eine weitere Erkenntnis: Keiner dieser hochklassigen Spieler schießt mit Kraft. Das sieht alles ganz locker aus und bei einigen Spielern, insbesondere bei Philippe Suchaud sieht man einen wunderschönen Bogen beim Schuss. Und ein ‚Carreau sur place“ ist hier anscheinend das normalste Ereignis der Pétanquewelt.

Inzwischen hat das Fernsehteam ganze Arbeit geleistet. Auf dem Platz sind insgesamt fünf Kameras verteilt, eine sogar an einem sog. „Galgen“. Letztere kann auch Bilder aus der Vogelperspektive liefern, was bei engen Situationen rund ums Schweinchen deutlich bessere Übersicht verschafft. Entsprechend viel Personal ist dabei: Kameraleute, Reporter, Interviewer, Bild- und Tontechniker und natürlich ein Regisseur. Übertragen wird im französischen Bezahlfernsehen Sport+ und später in einer Zusammenfassung bei France 3. Kleine Ausschnitte gibt es aber auch im Internet. 
Übrigens: Bei einem solchen Turnier spielen die Spieler des einen Teams mit dunklen, die des anderen Teams mit hellen Kugeln – ein Supersevice, nicht nur für’s Fernsehen sondern auch für die Zuschauer.

Zum Halbfinale am Nachmittag sind die Tribünen voll besetzt. Inzwischen ist es 15:00 Uhr und pünktlich beginnt die Show. Drei Pom-Pom-Girls tanzen zu heißer Musik und der Moderator überschlägt sich fast bei der Vorstellung der jungen Damen. Offizielle müssen vor einem solchen Ereignis auch in Frankreich zu Wort kommen. Aber dann geht es los. Team „FRANCE“ gegen das Team „Sevilla“. Man reibt sich die Augen – drei Aufnahmen sind gespielt und es steht bereits 12 : 0 für das Team „Sevilla“. Was ist da los beim französischen Nationalteam? Ratlosigkeit auch bei den Spielern. In der vierten Aufnahme ein Punkt für „FRANCE“. Aber das war nur ein kurzes Aufflackern. Die nächste Aufnahme bringt bereits das Ende: 13 : 1 und nur ganz knapp einem Fanny entgangen. Reichlich niedergeschlagen verlässt das französische Nationalteam bereits nach nur 35 Minuten den Platz.

Ganz anders die zweite Halbfinalbegegnung, auf die man sich jetzt ungeschmälert konzentrieren kann. Das Team „Wild Card“ gegen Madagaskar. Während die andere Partie bereits zu Ende ist, steht es hier gerade mal 2 : 2. Bereits zweimal wurde die Zielkugel ausgeschossen. Die Begegnung entwickelt sich weiterhin ausgesprochen eng. Und es gibt tolle Höhepunkte. Einen solchen kann man in einem vom Veranstalter bei Dailymotion eingestellten Video (Journal Masters de Pétanque 2011 : Episode 3… von petank-quarterback  –  ca. 10 Minuten) sehen. Ganz großer Sport! Letztlich beweist aber auch das Team aus Madagaskar, dass auch Top-Spieler mal ein Spiel total „verdaddeln“. Fünf Kugel auf der Hand, der Gegner ist leer und hat nicht wirklich Überragendes zustande gebracht. Statt sich den Weg frei zu schießen (bei diesem Schießer überhaupt kein Problem), versucht man zu legen und bleibt prompt ein ums andere Mal an den vorne liegenden Kugeln des Gegners hängen. Statt möglichem Sieg ein mentaler Tiefschlag und kurz danach das Ende der Partie – mit 13 : 8 macht das Team „Wild Card“ den Sack zu und steht im Finale. Diese Partie war die längste des Tages und hat den Zeitplan erstmals durcheinander gebracht – man ist eine Stunde hinter dem geplanten Zeitablauf.

Bei der Siegerehrung nach dem Finale ist das Fernsehen mit vier Kameras dabei - das zeigt, welchen Stellenwert Pétanque in Frankreich hat. Nach einer kurzen Pause kommen wieder die Pom-Pom-Girls und dann werden die Spieler des Finals einzeln vorgestellt, dazu die Schiedsrichter und die Jury – alles so, wie bei einem richtig großen Sportereignis – ist ja schließlich auch eins. Das Finale hält dann allerdings nicht mehr das Niveau der vorangegangenen Spiele. War die Pause für das Team „Sevilla“ vielleicht doch zu lang? Jedenfalls kam man nicht ins Spiel und dann zweimal taktisches Vabanque mit dem Versuch, die Sau ins Aus zu schießen. Dabei sind vier Fehlschüsse nicht nur tödlich sondern auch für der Moral der absolute GAU. Das war bei den Spielern auch deutlich zu sehen. Das Team fiel regelrecht auseinander. 5 : 13 war die Quittung und die „Jungen Wilden“ hatten nicht nur dieses Turnier gewonnen sondern führen jetzt auch die Gesamtwertung dieser Turnierserie an.

Ein Tag, an dem wir großen Pétanquesport gesehen haben, ging zu Ende. Eigentlich war geplant, noch in Wissembourg essen zu gehen, aber nachdem wir schon zu Mittag gut gegessen hatten, haben wir das auf einen anderen Tag verschoben. Wissembourg  war eine Reise wert – in jeder Hinsicht – und wir werden wieder kommen, auch ohne ein Pétanqueturnier. Und mit der Verarbeitung der gewonnenen Eindrücke werden wir auch noch eine Weile beschäftigt sein. Offen bleibt am Ende nur eine Frage: Wie finanziert sich das Ganze? Erheblicher Aufwand der Organisatoren, die Spieler werden auch nicht nur für die Ehre spielen und Eintritt wird nicht erhoben. Wie geht das? Egal, ich kann allen nur raten, beim nächsten Mal dabei zu sein, wenn es in erreichbarer Entfernung wieder heißt: Boulespiel wie in einer anderen Welt.