Und das Chaos gewinnt doch

Turnier im Boulodrome von Carpentras. Alles Kreuz und Quer und dazwischen noch Zuschauer auf ihren Stühlen. Und trotzdem funktioniert alles bestens - bewundernswert. Nach der Bouletrainingsstunde mit vielen a-ha-Erlebnissen bei den Trainingsteilnehmern und den Begleitenden stand am Nachmittag das Turnier in Carpentras an. Das Boulodrome von Carpentras, für mich das schönste, das ich kenne, stand schon während der ersten Überlegungen auf unserem Plan. Montags, donnerstags und freitags gibt es dort, jeweils am Nachmittag ein Turnier. Wir hatten uns den Donnerstag ausgesucht – 135 Spieler hatten den gleichen Gedanken und so wurden 45 Tripletten gebildet. Wie in Frankreich üblich in Form des Melée, d.h. die Formationen wurden aus den angemeldeten Personen per Los gebildet. Lizenz war an diesem Nachmittag natürlich Pflicht. Unseren Rheingauer Boulern wurden ausnahmslos französische Teampartner zugelost. So weit – so gut. Aber die Art der Teambildung sorgte für die erste Verwirrung:  Team 39 – CACERES Francois, JULLIARD Camille, KITZMANN Steffen – wunderbar, aber wer sind die beiden, mit denen Steffen spielen sollte? Niemand hatte eine Nummer oder sonst ein Kennzeichen und bei uns war es mit der französischen Sprache auch nicht so weit her.

Großes Gewusel nach Aushängen der Liste mit den Teamformationen. Jetzt zeigte es sich als grandiose Fügung, dass wir als Gruppe am Morgen in Caromb Sebastien und Christhophe bereits kennen gelernt hatten. Beide waren uns in rührender Bemühtheit behilflich, unsere Partner zu finden. Die Beiden kannten anscheinend Jeden. Kaum zu glauben, aber nach gut fünf Minuten hatten sich alle Teams gefunden. Ich weiß nicht, ob das in Deutschland bei einem Turnier möglich wäre. Aber es sollte an diesem Nachmittag noch viel besser kommen.

Absolut erstaunlich: Das Turnier begann punkt 15:00 Uhr. Keine zeitliche Zugabe – alle Spieler waren zeitig eingeschrieben – bei Start des Turniers musste nach Niemandem gefahndet werden – absolut beeindruckend.

Das Boulodrome von Carpentras besteht links von der Getränkeausgabe, die gleichzeitig im hinteren Teil Turnierbüro ist, aus einigen klar abgegrenzten Bahnen – ordentlich, wie wir sie von vielen Turnieren und Bouleplätzen in Deutschland kennen. Aber dort spielte niemand. Alle fanden sich in dem großen freien Gelände unter den riesigen Platanen ein, die, obwohl noch ohne Laub, allein mit Ihren Zweigen bereits einigen Schatten spendeten – bei über 25 Grad war das auch durchaus willkommen. Aber in diesem Bereich waren keinerlei Spielfelder markiert. Also wurde Terra-libre (freies Gelände) gespielt. Bei 45 Teams waren 22 Partien (+ ein Freilos) zu spielen. Absolut verrückt: nach der Platzwahl per Münze verteilten sich unter Leitung der französischen Teammitglieder die Mannschaften quer über den Platz. Entsprechend dem Reglement für Terra Libre wurde nun in jeder Richtung gespielt. Jedem Ordnungsfanatiker in Deutschland wäre jetzt spätestens das Herz stehen geblieben. Nun scheinen die französischen Spielerinnen und Spieler über ein zusätzliches Paar Augen zu verfügen. Wird nebenan geschossen, bleiben in dem Moment alle anderen Spieler still stehen. Nach hinten wird von den Mitspielern abgedeckt und ist eine Kugel, weil daneben geschossen oder weil getroffen, all zu weit unterwegs, wird sie einfach angehalten und als AUS erklärt – ganz locker und niemand regt sich auf. Die Partie daneben läuft im stumpfen Winkel gegen die eigene Spielrichtung und niemand hat damit ein Problem.

Als ob dies alles für die ordnungsliebende deutsche Seele noch nicht genug Belastung wäre, gruppieren sich spätestens nach der zweiten Runde in erheblichem Umfang Zuschauer um die interessanten Spiele. Die haben natürlich Stühle dabei – man will ja schließlich nicht so lange stehen. Weil aber die Spielrichtung nicht konstant in einer Richtung hin und her ist, entfernt sich ein Spiel schnell einmal von der gerade formierten Sitzreihe. Überhaupt kein Problem! Alle schnappen brav ihren Stuhl und wandern dem geworfenen Schweinchen hinterher. Man kann sich ein heimliches Lachen kaum verkneifen, wie alle mit dem Stuhl unter dem Allerwertesten in halb gebückter Haltung über den Platz schleichen. Unglaublich – aber wo wir ob des Durcheinanders dem Herzschlag nahe wären, läuft hier alles ohne Probleme. Ein Spieler wirft das Schweinchen in Richtung einer Sitzgruppe, in der sich auch ein Rollstuhlfahrer befindet – kein Problem, der Rollstuhlfahrer legt wortlos den Rückwärtsgang ein und alle anderen heben in schon beschriebener Weise ihren Stuhl hinter dem Rücken, gehen zwei Meter zurück und das Spiel kann beginnen. Wir sind alle miteinander total irritiert.

Reiner und Klaus mit ihrem Teampartner Jean Louis Roux im Preisgeld des Turniers von Carpentras. Die Höhe wird nicht verraten, das Finanzamt hört mit. Aber wichtig ist sowieso nur die Platzierung. Auch dieses Turnier wird, wie alle bisherigen Turniere, wieder im Modus A-B-ko gespielt. Das bedeutet, dass die erste Partie darüber entscheidet, ob man im A-Turnier (Concour) oder im B-Turnier (Consolante) weiterspielt. Bei der nächsten Partie scheidet der jeweilige Verlierer bereits aus. Hart, aber auch irgendwie fair. So hat man nur zwei Spiele garantiert. Wir haben darüber nachgedacht und diskutiert und sind zu der Meinung gekommen: Ein guter Turniermodus! Wer, wie so oft bei uns, ins Feld geführt, mehr Spiele spielen möchte, muss schlicht und ergreifend mehr üben, damit man besser wird und um dann im Wettbewerb weiter zu kommen. Ganz einfach. So beginnen hier nahezu alle Turniere um 15:00 Uhr und sind normalerweise gegen 19:00 Uhr spätestens beendet. Dabei ist es durchaus nicht unüblich, dass sich die beiden besten Teams das Finale schenken und das Preisgeld teilen. Das hatten wir schon von Klaus Mohr gehört und hier haben wir es erlebt. Aber auch das ist kein Problem – man hat bis zu diesem Zeitpunkt so viele gute Spiele gesehen, dass es auf ein Spiel mehr oder weniger nicht mehr ankommt. Ein weiterer bemerkenswerter Punkt ist die Tatsache, dass hier keine Cadrage gespielt wird, um einen Turnierbaum durch eine 2-er Potenz der Teilnehmer symetrisch zu machen. Damit wird auch vermieden, dass zu Anfang viele Mannschaften beschäftigungslos in der Gegend herumsitzen. So kann es allerdings vorkommen, dass gegen Ende drei Mannschaften im Halbfinale stehen. Auch das ist kein Problem – eine Mannschaft kommt eben per Freilos ins Finale, die anderen beiden Mannschaften spielen ihr Halbfinalspiel. Es scheint mir eine konsequente Auslegung der Regel, dass zu einem Weiterkommen in einem gut besetzten Turnier auch ein wenig Losglück gehört. Dabei erscheint es unwichtig, ob man Losglück in der ersten oder der letzten Runde hat.

Es gäbe noch so vieles zu berichten – so zum Beispiel die Erkenntnis, dass es in diesem, wie in jedem anderen Turnier, ganz excellente Spieler gibt, die hier bei uns alles abräumen würden, dass aber beileibe nicht alle Franzosen excellent spielen, bei einigen können wir durchaus voll mithalten. Es gäbe auch zu berichten, dass beim Boulespiel körperliche Behinderungen überhaupt keine Rolle spielen. So kam ein Spieler der gegnerischen Mannschaft mit zwei Krücken (korrekt: Unterarmgehhilfen) in den Kreis. Die Krücken waren per Bändsel am Hosengürtel festgebunden. Im Kreis ließ er die Krücken einfach fallen, warf seine Kugel und zog danach an den Bändseln die Krücken wieder heran und ging aus dem Kreis – unglaublich. Weiter ist zu berichten, dass während der Partie allerhöchste Konzentration herrscht – man quatscht nicht. Danach ist man wieder frei und das Mundwerk steht nicht still.

Es gab, wie berichtet, viel zu lernen an diesem Nachmittag – unter anderem die Erkenntnis, dass für ein solches Turnier unsere Spielstärke noch nicht wirklich ausreicht. Aber wir werden viel üben und dann wiederkommen!