Das Holstentorturnier in Travemünde:
Eine andere Dimension (1)

Inge und Walter mitten im Brügmanngarten im Spiel der Cadrage gegen ein Team aus Hamburg. Samstag, 16. August, 9:00 Uhr: ein kleines Abenteuer wird Realität. Inge und Walter Weishaupt stehen vor der Bühne im Brügmanngarten in Travemünde und sind ein wenig nevös: Vor Ihnen liegt die Teilnahme am größten Bouleturnier Deutschlands, dem Holstentorturnier in Travemünde.

Die beiden sind gestern aus Nordfriesland herüber gekommen nach Travemünde. Dort war es stürmisch und regnerisch – hier scheint die Sonne und ein wunderschöner Sonnentag kündigt sich an. Bei Radtouren und ein wenig Bouletraining haben sich die beiden vorbereitet. Man hat die weite Reise nach Schleswig-Holstein einfach mit ein paar Urlaubstagen mit Freunden verbunden. Auch in Travemünde will man noch ein paar Tage bleiben. Aber heute soll Boule gespielt werden.

Ein erster Blick auf die abgegrenzten Bahnen hat bereits gestern abend die Dimension dieses Turniers verdeutlicht: Da wurde eine Bahn mit der Nummer 230 gesichtet. Sollte man doch mehr als die ursprünglich als Grenze gesetzten 400 Doubletteteams angenommen haben? Die Starterliste nach der Einschreibung der angemeldeten Teams umfasst schließlich 443 Teams.

Reinhard Schwertfeger vom Veranstalter 'Compagnie de Boule Lübeck' und Kurdirektor Uwe Kirchhoff begrüßen die Mannschaft aus Madagaskar und verteilen kleine Begrüßungsgeschenke. Zouha Majdoub, die Vertreterin der tunesischen Botschaft, Bürgermeister Bernd Saxe und der Vizepräsident Kommunikation des DPV, Lutz-Rüdiger Busse beobachten im Hintergrund. Die Anmeldung war ausschließlich per eMail möglich. Wenige Tage vor dem Turnier wurde die Anmeldebestätigung und die Startnummer per eMail übermittelt. Mit diesen Unterlagen meldet man sich an einem der fünf Anmeldetische. Man erhält einen Button mit der Startnummer und noch ein paar weitere Informationen. Nun kann es also losgehen. Noch nicht ganz! Erst müssen noch die Ehrengäste begrüßt werden und der Bürgermeister der Hansestadt Lübeck seine Grußworte sprechen. Dann werden die ausländischen Gastmannschaften vorgestellt: Kroatien mit seiner WM-Mannschaft, Schweden mit dem Reinhard-Schwertfeger-Fan-Club, Holland, Frankreich, Ukraine, Madagaskar mit „Carlos“, dem Weltmeister der Tireure usw. – und immer noch fehlt der Ehrengast des diesjährigen Turniers: Die tunesische Nationalmannschaft mit ihrem Trainer und u.a. den Vizeweltmeistern Mohamed „Momo“ Ferjani und Monia Sahal. Die haben sich auf dem Weg von Hamburg nach Travemünde ganz einfach verfahren.

Inge und Walter vor ihrem Start beim größten Bouleturnier Deutschlands - die grünen Trikots sind weithin zu sehen und fallen auch im größten Gedränge noch auf. Endlich sind alle Mannschaften komplett. Es ist 11:00 Uhr und das Turnier kann starten. Gespielt wird im üblichen Modus des A-C-B-D – ko. Hier haben sich die Veranstalter von der Compagnie de Boule aus Lübeck etwas Pfiffiges einfallen lassen: Die Bahnen sind ausgelost und zugeteilt. Die beiden ersten Runden werden unter den vier Mannschaften der nebeneinanderliegenden Bahnen ausgespielt ohne erneutes Losen. Also spielen in der zweiten Runde: Gewinner ungerade Bahnnummer gegen Gewinner gerade Bahnnummer; genauso die Verlierer der beiden Bahnen. Damit ist die Aufteilung der Gruppen A,B,C,D bereits sehr schnell abgeschlossen. Genial einfach.

Für Inge und Walter bringt die erste Begegnung nach überaus engem Verlauf einen Sieg gegen ein Team aus Neumünster. Damit ist der ansonsten „übliche“ Gang in die Gruppe C schon mal gestoppt und Inges Minimalziel mindestens eines Sieges bei diesem Turnier bereits erreicht. Da man immer nur einen Punkt nach dem anderen geholt oder abgegeben hat, sind nach Beendigung der Partie die nächsten Gegner erst einmal aus Ihrer Ruhephase aufzuwecken. Gegen ein Team aus Berlin geht es nun in der Partie der Erstrundengewinner. Schnell ist ein ordentlicher Vorsprung herausgearbeitet: 9 : 3. Aber dann beginnt es zu haken. So kommen die Gegner Punkt um Punkt heran und gehen schließlich mit 11 : 9 in Führung. Plötzlich läuft es wieder und schließlich steht es 12 : 11 für das Team aus dem Rheingau – am 13. Punkt fehlen nur wenige Millimeter. Die nächste Aufnahme bringt den Ausgleich und so kommt es nun zum Shutdown. Die letzte Aufnahme verläuft so wechselhaft wie die gesamte Partie am Ende mit dem besseren Schluss für die Berliner. Schade, es war nie einfacher und näherliegend als hier, in das A-Turnier zu kommen.

Ein Team aus Rockenhausen: Rolf mit Partner Jay-Jay vor prachtvoller Kulisse in Travemünde. Nun folgt eine enorm lange Pause. Die Spielzettel der über 440 gespielten Partien müssen ausgewertet und in den Computer übernommen werden. Nachdem die Cadrage ausgelost ist, müssen die Anzeigetafeln für die vier Turniergruppen von Hand gesteckt werden. Das dauert sehr lange.  Also vertreibt man sich die Zeit mit Mittagessen. Dabei sind, da alle Spiele doch letztlich recht zeitnah beendet werden, vor den Essensständen sehr lange Schlangen zu überwinden. Aber es bleibt auch noch Zeit Freunde und Bekannte zu begrüßen. So wird beim Team aus Rockenhausen Dank abgestattet für den Tipp, nach Travemünde zu fahren – wirklich eine gute Idee. Wenn man fleißig Turniere besucht, lernt man viele Leute kennen und es ist erstaunlich, wie viele den Weg nach Travemünde auf sich genommen haben. Auch in diesem Punkt wird die besondere Art des Turniers deutlich: Viele Spielerinnen / Spieler sind mit Partnerin oder Partner angereist. Wenn man schon nicht zusammen spielt, macht man offensichtlich doch zumindest ein paar Tage Urlaub an der Ostsee – und das Wetter spielt dabei mit.

Endlich ist es soweit: Die Cadrage steht. Schnell ist die Bahn gefunden, Inge und Walter haben Glück, indem sie Bahnen zugelost bekommen, die sich in unmittelbarer Nähe des zentralen Aufenthaltsbereichs befinden. Jetzt ist der Gegner ein Damenteam aus Hamburg. Ist es die noch nicht wieder aufgebaute Konzentration oder ein Unterschätzen des einfach aussehenden Spielgeländes? Jedenfalls hat man sich schnell einen „Six-Pack“ eingefangen, von dem man sich nicht mehr erholt. Das Spiel ist so schnell vorbei, dass man nicht mal richtig in die Partie gefunden hat. Ein Mangel, den es schon früher gab und an dem man arbeiten muss. Jetzt war also das Turnier bereits vorbei.

Vizeweltmeister beobachten aufmerksam das Spiel: Mohamed 'Momo' Ferjani und Monia Sahal gegen ein Team aus Madagaskar und Hamburg Das war aber nicht wirklich ein Unglück. Nun hatten die Beiden Zeit, sich den anderen Partien zuzuwenden. Da die Veranstalter alle Partien einer Turniergruppe auf nahe beieinander liegenden Bahnen zuordneten, war schnell die Entscheidung für den Bereich des A-Turniers getroffen. Bereits zum 1/16-tel Finale konzentrierte sich das Geschehen auf bekannte Gesichter aus der deutschen Turnierszene und natürlich auf die ausländischen Gäste aus Tunesien, Madagaskar, Frankreich, Holland und Schweden. Es ist empfehlenswert, sich auf eine zu beobachtende Partie zu konzentrieren. Nur so kann man den Verlauf und ggf. die Änderungen im Spiel von Aufnahme zu Aufnahme wirklich verfolgen. Bei den ab Achtelfinale noch im A-Turnier befindlichen Mannschaften können die technischen Grundfertigkeiten unbesehen vorausgesetzt werden. Unterschiede sind gering, aber ausgesprochen wirkungsvoll. Ein Fehlschuss oder eine versprungene Kugel können den Ausgang der Aufnahme bereits entscheiden. Zwei Fehler in einer Aufnahme führen – und das ist eine beruhigende Erkenntnis – auch bei einem Vizeweltmeister zum Einpacken eines Six-Pack.

Andererseits ist es faszinierend zu sehen, mit welcher Intensität eine eigene Kugel verteidigt wird. Da wird auf alles geschossen was näher liegt als die eigene Kugel – selbst dann, wenn diese 80 cm von der Zielkugel entfernt liegt. Mit der Zeit kann man deutlich sehen, welchen Stellenwert auf diesem Niveau Zeit- oder gar Kugelvorteil bzw. -nachteil haben. So wird dann schnell der „Sauschuss“ zur finalen Rettungstat – so mehrfach beim französischen Team zu beobachten.

Obwohl Spiele auch recht lange dauern, sind einige doch überaus spannend. Dabei speist sich die Spannung weniger aus den spektakulären Einzelaktionen als vielmehr aus dem Verlauf der Partie. Konzentriert man sich auf die Beobachtung einer Partie wird u.U. auch die mentale Verfassung der Spieler deutlich. Wie reagieren sie, wenn ein sicher geglaubter Vorsprung dahinschmilzt? Wie stellt sich ein Spieler auf einen entscheidenden Schuss ein? Oder auch nur: Welche Taktik wird beim Auswerfen des Schweinchens angewandt?

Während im Vordergrund die Spiele des A-Turniers laufen - zu sehen sind u.a. Hans-Joachim Neu und Sascha Löh sowie Michel Lauer und Jannik Schaake - hebt im Hintergrund der Ballon ab. Mit auf großer Fahrt die glücklichen Gewinner, die aus der Schar der bisher ausgeschiedenen Mannschaften gezogen wurden. Kommt mir irgendwie bekannt vor ;-). Im Viertelfinale, es ist schon nach 21:30 Uhr, kommt es zur Begegnung zwischen Mohamed „Momo“ Ferjani / Monia Sahal (Tunesien) und Julian Bua / Yvon Lekervern (Frankreich). Gefühlt hätte das auch das Endspiel sein können. Walter hat einen Sitzplatz in der ersten Reihe direkt neben der Spielbahn nachdem Inge bereits  „nach Hause“ gegangen ist. Momo hat sich inzwischen entschlossen zu legen, nachdem er noch am Nachmittag als Schießer tätig war. Das Schweinchen rollt in eine große Kuhle, die sich nach den vielen Spielen des Tages (und vielleicht schon vorher) gebildet hat. Ohne lange das Gelände zu sondieren wirft Momo seine erste Kugel im Hochportée. Die Kugel kommt ca. 60 cm vor dem Schweinchen auf. Doch hier fällt das Gelände schräg zur Kuhle hin ab. Die Kugel verspringt und landet ca. 2 m neben dem Schweinchen. Auch das passiert. Aber vielleicht ist er einfach nur unkonzentriert oder müde von langen Tag (früh aufgestanden und mit dem Auto verfahren!).

Doch wenig später zeigt sich die Extraklasse der vier Akteure. Momo legt – ca. 7 cm rechts vom Schweinchen. Julien schießt – carreau sur place. Monia schießt – carreau. Julien schießt erneut – wieder carreau! Vier Kugeln sind gespielt und nur eine liegt halbwegs in der Nähe des Schweinchens. Jetzt erscheint es Momo an der Zeit, erneut zu legen. Und er kann Juliens Kugel erreichen. Seine Kugel liegt direkt vor Juliens Kugel und hat den Punkt. Das alles geht unglaublich schnell. Da gibt es keine langen Wanderungen und keine Diskussion, welche Kugel den nun besser liegt. Das ist einer der augenfälligsten Unterschiede zu anderen Spielen, insbesondere, das sei erlaubt zu sagen, zu Begegnungen mit Beteiligung deutscher Spitzenspieler.

Mit der Harmonie zwischen Momo und Monia ist es an diesem Tag nicht besonders gut bestellt. Momo hat offensichtlich seinen „Meckertag“ – das fiel schon am Nachmittag auf. So kommt es dann auch in dieser Partie so wie es in solchen Fällen kommen muss – die tunesische Mannschaft scheitert an ihrer mentalen Einstellung und fehlender Harmonie im Team – Julien und Yvon sind überzeugend eine Runde weiter. Da das Spiel schnell zu Ende ging, kann man gerade noch die zweite Hälfte der Partie von Jan Garner und Martin Kuball, den Vorjahressiegern bei diesem Turnier, beobachten. Am Ende müssen auch Jan und Martin die Segel streichen. Der Titelverteidiger ist draußen. 

Ein überaus lehrreicher Tag geht zu Ende. Es ist schon nach 23:00 Uhr und gerade sind die Spiele des Viertelfinals beendet. Es wird langsam kalt und deshalb heißt es nun, in Richtung der Ferienwohnung aufzubrechen – Morgen ist auch noch ein Tag!